Manuela Klöckner-Marseglia – 2015-01

Auszüge aus dem Programmheft

HARMONIA
Konzert - 26. Juli 2015 -
Nürnberg, Auf AEG - Werkstatt 141,
Musik von ALAN FABIAN für modifizierte Tasteninstrumente und Live-Elektronik
Uraufführung MANUELA KLÖCKNER



Alan Fabian

Die Komposition Harmonia
besteht in einer Aufeinanderfolge von diatonischen Klängen mit jeweils 6 Tönen. Diese Klänge bestehen in einer bestimmten Vorgabe intervallischer Verhältnisse und Transpositionsebenen. Die 6stimmigen Klänge werden mittels Echtzeitklangsynthese zeitlich verlängert und werden so zu vielstimmigen Klängen geschichtet. Die Klänge sind gemäß einer Harmonizität sortiert, die ich vorgegeben habe. Die harmonische Qualitäten der Sortierungen tragen eine Periodizität in sich. Zusätzlich werden die Klänge mit Teiltönen ihres Grundtons in reiner Stimmung ›harmonisiert‹; damit will ich versuchen, den Hörer auf eine Resonanzfrequenz - sozusagen im unhörbaren Bereich - einzustimmen, die der Musik einen ›unhörbaren‹ Grundton gibt.

Die Bedingungen (Constraints),
nach denen die 6tönigen Klänge algorithmisch (Constraint Satisfaction) im diatonischen Tonvorrat (Search Space) erstellt sind, hier in der Programmiersprache Common Lisp für den Constraint-Solver in PWGL formuliert - in der Reihenfolge der Abbildung von oben nach unten:
Mögliche Intervalle sind die kleine/große Sekunde (1, 2), die kleine/große Terz (3, 4), die Quarte (5), der Tritonus (6) und die Quinte (7); vom tiefsten zum höchsten Ton folgt auf eine 1, 2, 3 oder 4 eine 5, 6 oder 7, sowie auf eine 5, 6 oder 7 eines der genannten insgesamt möglichen Intervalle (1, 2, 3, 4, 5, 6 oder 7); die kleine/große Sekunde/Terz ist in einem Klang nur einmal möglich; Oktavierungen eines Tons sind ausgeschlossen. Der Constraint-Solver gibt alle 145 Möglichkeiten für diese Bedingungen aus.


(* ?1 ?2
(?if (member (- ?2 ?1) '(1 2 3 4 5 6 7))))

(* ?1 ?2 ?3
(?if
(let ((a1 (- ?3 ?2))
(a2 (- ?2 ?1)))
(cond
((member a1 '(1 2 3 4)) (member a2 '(5 6 7)))
((member a1 '(5 6 7)) (member a2 '(1 2 3 4 5 6 7)))))))

(*
(?if (let* ((dist (pw::x->dx l))
(result (mapcar #'(lambda (x)
(cons x (count x dist)))
(remove-duplicates dist))))
(not (loop for x in result
when (or (and (= (car x) 1) (> (cdr x) 1))
(and (= (car x) 2) (> (cdr x) 1))
(and (= (car x) 3) (> (cdr x) 1))
(and (= (car x) 4) (> (cdr x) 1)))
return t)))))

(* ?1
(?if (not (member (mod ?1 12) (loop for i in (rest rl)
collect (mod i 12))))))

Der Konzerttitel
Europäische Musikmathematik fängt spätestens mit Platon an, der seinen Timaios sagen lässt, dass die Weltseele aus ganz bestimmten Verhältnismaßen zusammengefügt ist, der Harmonia:

1/1 – 9/8 – 81/64 – 4/3 – 3/2 – 27/16 – 243/128 – 2/1

Wer diese Zahlenverhältnisse an der Saite des Monochords erklingen lässt, hört die vollständige Diatonik.
Menschenseelen, so Timaios weiter, kommen unharmonisiert auf die Welt und so besteht der eigentliche Lebenssinn des Menschen darin, die eigene Seele mit der Weltseele zu harmonisieren -- zum Beispiel mittels Musik.
Diese griechisch-antike Phantasie haben Denker, die sich in der Tradition der Quadrivium (Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik) verstanden haben, stets weitergesponnen.
Der als Astronom berühmt gewordene Johannes Kepler erdenkt in seiner Weltharmonik im Anschluss an Platon ein anthropologisches Harmoniesystem, in dem die Menschenseele, in die das Urblid von Harmonie eingeschrieben ist, »sinnliche Harmonie« abgleicht, so dass Harmonie für den Menschen wahrnehmbar werden kann. Weiter leitet er aus Platons Maßgaben naturwissenschaftliche Erkenntnisse ab, wie zum Beispiel in Bezug auf Umlaufbahnen von Planeten.

Alan Fabian

ST/1-1,02042015
habe ich mit dem ersten europäischen Kompositionsprogramm (FSM, 1962) des Avantgarde-Komponisten Iannis Xenakis generiert.

Xenakis gilt in der Musikgeschichte der Avantgarde-Musik (2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) als einer der maßgeblichsten Komponisten. Er entwickelte in den 1950er Jahren eine ganz eigene Musikästhetik, die er ›stochastische Musik‹ nannte. Die damit einhergehende musikstochastische Produktionspraxis implementierte er 1962 im Computerprogramm mit dem Namen Free Stochastic Music (FSM) für die Computermaschinerie (IBM-7090/94) von IBM-France in Paris.

Nicht nur aufgrund veränderbarer Eingabedaten, sondern vor allem aufgrund der stochastischen Beschaffenheit gibt das Programm bei jeder Ausführung ein anderes Ergebnis - eine andere Komposition - aus. Und damit wird - so Xenakis - der Komponist zu einem Piloten, der ausgehend von Voreinstellungen (Eingabedaten) für das Computerprogramm einen musikstochastischen Raum, der in der musikalischen Umsetzung letztlich ein klanglicher Raum ist, durchfliegen kann: »[H]e [the composer-pilot] presses the buttons, introduces coordinates, and supervises the controls of a cosmic vessel sailing in the space of sound« (Xenakis1992, Formalized Music, S. 144).
Xenakis schreibt, dass eine Vielzahl an Kompositionen mit den unterschiedlichsten Orchestrierungen möglich ist, die wie die erste Komposition, die er mit diesem Programm erstellt hat (ST/10-1), klingen: »A large number of compositions of the same kind as ST/10-1, 080262 is possible for a large number of orchestral combinations. Other works have already been written: ST/48-1, 240162, for large orchestra, commissioned by RTF (France III); Atrées for ten soloists; and Morsima-Amorsima, for four soloists.« (Xenakis1992, S. 144)

Für meine Komposition ST/1-1,02042015 für ein Helpinstill-piano mit digitaler Echtzeitzeitklangsynthese, habe ich zusammen mit Manuela Klöckner für die Programmeingabe eine Instrumentation entwickelt, die das Klavier als Saiteninstrument einsetzt: Das Spiel auf den (un)präparierten Saiten umfasst von Pizzicato über Flageolett bis hin zu Arco und Battuto die verschiedensten avantgardistischen Spieltechniken. Die Komposition besteht aus 10 Teilen, den sogenannten ›Sequenzen‹. Da die große Dichte an Klangereignissen innerhalb einer einzelnen Sequenz in Echtzeit manuell nicht realisierbar ist, schichten wir diese mittels periodischer Aufnahme (in Echtzeit) und spielen, nachdem alle Sequenzen fertig geschichtet sind, die Sequenzen hintereinander ab: erst dann erklingt die Komposition vollständig und im Ganzen. Mit ST/1-1,02042015 stellen wir mit einer erklingenden Musik die Frage nach dem Autor in diesem computermusikalischen Zusammenhang: Wer ist hier letztlich der Komponist, wir oder/und Xenakis?