Bilder aus: Timmo Strohm «Morton Feldman Ein Musikerlebnis»

Unvermutet.
Ich begegnete Morton Feldman völlig unvermutet.
ich hatte den Termin vergessen, war,
in totaler Unkenntnis des Komponisten, des Jahrhunderts, der Stilrichtung oder musikalischen Gattung, und ich wusste nicht, wo die Garderobe sich befand.

Die Sängerin, die vor mir steht, wirkt eigenartig multipliziert. Als wäre sie die Essenz aus drei Sängerinnen, ein Sopran³ oder ein hoch konzentrierter Drilling. Seltene Sache.

Mit der Musik schreitet die Dämmerung voran. Vorm Fenster ist Verkehrslärm zu hören, und mein Gehör ist so aufnahmebereit und flexibel geworden, dass ein Eindruck entsteht wie von Vordergrund und Hintergrund – und ich sogar überlege, wie mir der Gesamteindruck dieses Außen-und-Innen gefällt.
Die merkwürdige Solotriplizität zieht mich wieder in ihren Bann.

Fast eine halbe Stunde hatte ich in den Tönen nach Worten gesucht, nun waren sie plötzlich da. Das Erlebnis ist wie in einem dieser Experimentalfilme, die in Schwarzweiß beginnen und dann plötzlich zu Farbe wechseln, oder wie in einem Gemälde aus Grautönen, das einen einzigen Farbtupfer enthält: plötzlich springt ein neuer Sinn an, der sein Objekt umso klarer zeigt, als es vom nicht Wahrnehmbaren umrahmt ist. So habe ich Worte noch nicht gehört. Und sie sinken wieder zurück in wortlosen Gesang.
Einen Spannungsbogen, wie ich ihn von Symphonien kenne, finde ich nicht, auch keine Einteilung in Sätze. Der Takt lässt sich nicht zählen, oder vielleicht kann nur ich ihn nicht spüren. Eine Steigerung ist da – oder ist es meine langsam wachsende Begeisterung? Tatsache ist, ich fühle genau diese
langsam zunehmende Verstärkung

Wenn etwas einem gefällt, das man weder kennt noch versteht, entsteht ein Gefühl von Vertrautheit und Neuheit zusammen: etwas wird angesprochen (in mir), von dem ich nicht wusste, dass es da ist. Wie eine bislang unbekannte Fähigkeit oder eine
erstaunlicherweise doch nicht vergessene Erinnerung

– es ist, als ob man auf der Straße ein einsam wanderndes Ohr treffen würde, das man nie bemerkt hätte, wenn es brav am Kopf eines Menschen säße.
Aber es gibt keinen Kopf oder Mensch.
Alles ist Ohr

Die Sängerin – Manuela Klöckner-Marseglia – trägt die Töne oder Klänge mit wunderbarer Präzision vor, man kann kaum glauben, dass sie so genau mit den gespeicherten Stimmen zusammensingt.
Synchron-Singen
eine menschliche Stimme
von absolut unbestechlichen Lautsprecherboxen gehalten
Ein Staksen, Gieksen oder Leiserwerden ist unmöglich.
Dies ist ein Monochor.

Seltsamerweise spüre ich, ohne nach der Uhr zu sehen, als es dem Ende zu geht und bin dann überrascht davon, dass das Gefühl richtig lag. Noch seltsamer ist, dass ich bedaure, dass ein Konzert vorbei ist. Benommen sitze ich noch einen Moment und sehe zur Barockdecke hoch, die strahlend und jubelnd – ausgerechnet die Dreieinigkeit zeigt.

Als ob ein Brennglas in der fünften Dimension einen gleißendhellen Lichtpunkt konzentrierten Kunsterlebens gebündelt hätte.

ins Dunkel nach draußen